Im Wahn homophober Paranoia
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oder: Russland, Dir geht es zu gut!
Als ich noch mit Dir in und vor den Geschäften Schlange stand, 1998 war das und uns einten die Hamsterkäufe, da warst Du froh, dass Du Deine Schränke und Deinen Magen füllen konntest. Oder 1992, weißt Du noch, wie ein humanitärer Hilfstransport nach dem anderen bei Dir eintraf und Kisten voll mit Mehl und Nylonsocken entlud, um Dich vom Gähnen Deiner Schaufensterauslagen abzulenken? Weißt Du noch, wie das war, als Du Deine Wahl zwischen Möhren, Kartoffeln und Rote Beete treffen musstest und dies Deine ganze Auswahl für sechs lange Wintermonate war? Und als Deine Familienväter reihenweise aus den staatlichen Fabriken in die Armut der Freiheit entlassen wurden und nicht wussten, wie sie ihren Kopf noch oben halten sollten - vor Scham und erlittenen Demütigungen. Erinnerst Du Dich noch ihrer Söhne, die Ende der 90er Jahre vor schierer Orientierungs- und Zukunftslosigkeit ihrer Väter reihenweise an die Spritze voll Heroin gerieten und nun Deine Friedhöfe bevölkern? Und ihre Altersgenossen, die schon Jahre zuvor als Täter und Opfer in Deinen mafiösen Strukturen ihr Leben ließen und deren Gedenksteine hundertmeterweise an Moskauer Ausfallstraßen aufgestellt wurden, um an ihren sinnlosen Tod zu erinnern. Ach, und kennst Du noch deren Brüder, die nach Tschetschenien fuhren, um als Notiz an die Mutter und hübsch im Sarg verpackt nach Hause geschickt zu werden? Ach und die Cousins, die durch den gemeinschaftlich-sozialistischen Gebrauch betäubender Spritzen nun als jämmerliche AIDSkranke ihre letzten jungen Tage fristen?
Und nun jagst Du Deinen letzten verbliebenen freien Männer mit schweigender Billigung?
Mit offizieller Stimme sprichst Du sie vogelfrei.
Ach Russland - und Deine Frauen!
Für den frühzeitigen Tod durch Gewehrkolben waren sie Dir lange zu schade.
Du brauchtest sie ja noch zum Gebären Deiner Totgeweihten.
Nun beten sie kopftuchgeschützt um die sexuelle Reinheit ihrer Söhne, auf dass sie ihnen nicht auch noch genommen werden.
Und ich verstehe diese Frauen.
Und ich verabscheue diese Frauen.
Und ich habe Mitleid mit diesen Frauen.
Sie können sich niemals solidarisch zu ihren frauenliebenden Geschlechtsgenossinnen bekennen, ohne vor ungekannte Gewehrläufe zu geraten.
Dir geht es zu gut, Russland und Deine fetten Jahre haben Dich träge gemacht.
Dein Sportprogramm der Saison: Jagd auf Schwule und Lesben. Offen gezeigt in Videos. Du wirst daran zugrunde gehen, wenn Du Dich nicht bald nur auf griechische Disziplinen konzentrierst.
Und noch etwas Persönliches an dieser Stelle.
Ich habe als Gast bei Dir gewohnt.
Du hast mich vieles gelehrt.
Du hast mich genährt.
Ich habe einige Deiner Söhne vor sicherer Qual bewahrt und einen am Grab Deiner verantwortungslosen Freiheit dann doch beweint.
Ich habe Deine Töchter mit Vitamintabletten und Kleidung geschmückt und zu mir zu Tisch gebeten.
Deine Mütter habe ich mit Geschichten unterhalten, aus dem ach so märchenhaften Westen.
Und Deine Väter mit gutem Werkzeug und eigener Arbeit in Haus und Garten überzeugt.
Wir waren quitt, wir beide, Du und ich.
Jetzt nicht mehr.
Pfui, Russland, Deine Straßen stinken vom Angstschweiß Deiner Regenbogenmenschen.
Deine Plätze ergrauen von Deinen homophoben Betonköpfen und schwärzen das Blut Deines Volkes durch den Bomberjacken-Mob.
Und färben den Platz vor Deinem Kreml mit frischem Blut.
Deinen Roter Platz.
Kennst Du eigentlich die Wortbedeutung von Rot im Russischen?
Rot bedeutet schön.
Russland, bist Du in zwanzig Jahren Unabhängigkeit so hässlich geworden, dass Du das Blut Unschuldiger brauchst, um wieder strahlend und schön zu sein?
Russland, wach auf bevor Du untergehst.
Denn ob Dir ein Regenbogen als Zeichen des Friedens angeboten wird, ist jetzt mehr als fraglich.
veicolare am 13. August 13
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